7
Was meinst du - was soll ich Paul zum Geburtstag schenken?«, fragte Natalie, als sie an diesem Nachmittag telefonierten.
»Sex«, antwortete Grace lapidar.
»Wie bitte?«
»Entschuldige, tut mir Leid - das ist mir einfach so rausgerutscht. Wie wär‘s mit Schuhen?«
Nach einem kurzen, irritierten Schweigen kam: »Bist du okay, Grace?«
»Aber ja. Es geht mir hervorragend. Bestens. Sag mal, kennst du den Unterschied zwischen einer Pension und einer Frühstückspension? Ich habe beim Fremdenverkehrsbüro angerufen, und die konnten es mir nicht erklären, stell dir vor!«
»Da kann ich dir auch nicht weiterhelfen«, sagte Natalie. »Wieso interessiert dich das überhaupt?«
»Weil ich nicht weiß, ob Adam Anspruch auf...«, fast hätte sie schon wieder »Sex« gesagt, doch diesmal konnte sie es gerade noch verhindern, »Abendessen hat.« Natalie dachte nach. »Hast du ihn gefragt, ob er Abendessen will?«
»Nein.« Aus irgendeinem Grund hatte sie sich gescheut, wieder zu ihm hinauszugehen.
»Dann hol das nach«, riet Natalie ihr im Befehlston. Sie kicherte anzüglich. »Oder ich frage ihn, wenn dir das lieber ist.«
»Hör auf, Natalie.«
»Was? Er ist doch ein Leckerbissen ...«
»Er ist mein Gast«, erwiderte Grace frostig. »Du solltest nicht so über ihn reden.«
»Um Himmels willen, Grace!«, reagierte ihre Freundin überrascht. »Das war doch nur Spaß! Warum machst du denn so ein Theater?« Grace fand derartige Äußerungen aus dem Mund einer Frau in Natalies Alter und Zustand einfach unpassend. Wären sie beide Männer, wäre es etwas anderes gewesen. War das nicht in jeder Hinsicht so? Noch immer?
Sie hatte keine Zeit mehr, über die Ungleichheit nachzudenken, denn die Führung einer Pension - oder Frühstückspension - brachte reichlich Arbeit mit sich. Da war zunächst einmal die Wäsche. All die Handtücher, Laken Einschlagtücher und Kopfkissenbezüge - wenn man nicht aufpasste, verbrachte man den ganzen Tag mit Waschen. Und dann musste man auch noch Staub wischen, putzen und Staub saugen. Mrs Carr war ganz offensichtlich keine Reinlichkeitsfanatikerin, doch Grace legte andere Maßstäbe an.
Als sie mit zwei sauberen Handtüchern nach oben ging, um sie in Adams Zimmer zu bringen, war sie sicher, dass dieses Gefühl schuldbewusster Freude nicht normal war für eine Pensionswirtin. Wohlwollend stellte sie fest, dass Adam sein Bett gemacht und etwaige Schmutzwäsche offenbar in seinen Rucksack gepackt hatte. Die geheimnisvolle Rolle lag unter dem Bett - das entdeckte sie, als sie die benutzten Handtücher vom Boden aufhob. Sie verließ das Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und lief, die Handtücher an die Brust gedrückt, leichtfüßig die Treppe hinunter. Als sie die Nase hineinsteckte, roch sie Shampoo und Seife und fühlte sich in bisschen wie ein Voyeur.
Auf dem Küchenfensterbrett stand ein altes Radio. Sie stellte es auf einen Sender ein, der Musik brachte, die ihr gefiel - Lite FM, wofür sie sich nicht schämte -, und belud die Waschmaschine, schaltete den Backofen ein und machte in einer von Mrs Carrs herrlichen Riesenschüsseln Brotteig. Sie steckte gerade bis zu den Handgelenken in klebriger Seligkeit und sang aus voller Kehle bei »Wake Me Up Before You Go-Go« mit, als ihr Handy klingelte. »Hallo?«
»Grace? Bist du das?« Ewan klang ein wenig befremdet über ihre fröhliche Stimme. Vielleicht hörte es sich aber auch nur durch die Entfernung so an. »Natürlich bin ich es. Ist alles okay?« Sie konnte ein Telefonat immer erst genießen, wenn sie die Möglichkeit eines Unfalls oder einer Verletzung der Jungen ausgeschlossen hatte.
»Ich denke schon. Wie geht es dir?«
»Großartig! Naja - einigermaßen«, korrigierte sie sich hastig. Sie durfte nicht zu heiter klingen. »Ich wünschte natürlich, ich wäre bei euch.«
»Es hört sich an, als wärst du in einem Konzert.« Jetzt klang er eindeutig verstimmt.
Eilends drehte sie das Radio leiser. »Entschuldige. Wo seid ihr?«
»Im Motel.«
»Wie ist es?«
Sie sah ein schmuddeliges Doppelbett vor sich, mit Laken, die nach Sex rochen, und eine Leuchtreklame, die durch das schmutzige Fenster blinkte. Nur ßr Erwachsene! Hier kommen Sie auf Ihre Kosten!
»Man kann die Dusche auf zwei verschiedene Stärken einstellen und sich selbst Kaffee oder Tee machen«, berichtete er.
»Oh.« Wie enttäuschend. Wurde denn alles auf der Welt standardisiert? Hygienisiert? Da lobte sie sich doch Mrs Carrs heruntergekommenes Haus. »Hat den Jungs der Flug gefallen?«
»Ich glaube schon.« Dass er nie freiwillig einen umfassenden Bericht geben konnte! Begriff er nicht, dass sie als Mutter wissen wollte, ob er daran gedacht hatte, ihnen für den Start der Maschine wegen des Druckausgleiches Kaugummis zu geben, ob sie sich beim Essen im Flugzeug für das Fleischgericht oder den Fisch entschieden hatten und ob es wegen der Platzwahl schließlich doch noch Streit gab?
»Wo bist du?«, fragte er stattdessen.
»Ich? In Irland, Ewan.«
»Das ist mir klar - aber wo in Irland? Ich habe gerade zu Hause angerufen, und Nick sagte mir, du seiest verschollen.« Verdammt. Sie hatte ihren Bruder doch über die Änderung ihrer Pläne informieren wollen! »Er ist krank vor Sorge um dich«, setzte Ewan hinzu. Das war wohl leicht übertrieben. Nick hatte sich wahrscheinlich ein-, zweimal kurz gewundert, wo sie blieb, und war dann nach einem kleinen Schlenker zum Kühlschrank an seine Computerbücher zurückgekehrt. »Ich bin in Mrs Carrs Haus.«
»Was tust du dort?«
»Ich mache bloß sauber, damit sie alles tadellos vorfindet, wenn sie aus der Klinik kommt.« Grace gab sich Mühe, locker zu klingen. Er würde es nicht verstehen, wenn sie ihm erzählte, dass sie hinter Mrs Carrs Rücken einen Gast aufgenommen hatte.
»Wann kommt sie denn raus?«
»Freitag.«
»Dann hast du also mit ihm gesprochen? Mit ihrem Sohn, meine ich. Wie heißt er gleich? Michael?«
»Äh ... nein. Nicht direkt. Ich habe bei ihnen angerufen ...«
»Und?«
»Und was?«
»Werden Sie sich um Mrs Carr kümmern?«
»Das ist ein bisschen kompliziert, Ewan.«
Sie wollte versuchen, es ihm möglichst einfach zu erklären, doch er brach kriegerisch in ihre Überlegungen ein: »Überlässt er es etwa dir, sie zu versorgen? Weiß er überhaupt, dass du eigentlich bei uns in Disneyworld sein solltest?«
»Ich habe es nicht erwähnt. Immerhin liegt seine Mutter durch meine Schuld im Krankenhaus«, erwiderte sie kühl.
»Es war ein Unfall! Das wird er doch wohl einsehen. Du hast zwei Kinder, um Himmels willen!«
Grace fiel ein, wie leicht den dreien auf dem Flugplatz der Abschied von ihr gefallen war, und wie sie das gekränkt hatte. »Dann ist nicht Sorge um mich der Grund für diese ... Inquisition? Es geht um die Jungs? Und in zweiter Linie vielleicht um dich?«
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. Dann plusterte Ewan sich auf: »Sei nicht albern! Ich meine ... als Nick sagte, du seiest nicht nach Hause gekommen, habe ich mir Sorgen gemacht Du solltest deinen Urlaub nicht damit zubringen, das Haus einer Fremden zu putzen, Grace. Du solltest dich erholen.«
Sie wollte ihm seine Besorgnis glauben, und so sagte sie versöhnlich: »Ich weiß. Aber ich halte es für meine Pflicht, Ewan. Es ist nicht das Geringste für sie vorbereitet, weißt du.«
Ewan schaltete noch einen Gang zurück. »Na ja, in dem Fall, denke ich... können wir noch ein, zwei Tage ohne dich auskommen.« Er rang sich sogar zu einem kleinen Lachen durch. »Nick hat am Telefon versucht, mich zu verunsichern, so in dem Stil ›wenn die Katze aus dem Haus ist‹ und so weiter.«
»Das ist eben seine Art von Humor.«
»Ich weiß - und ich sagte zu ihm, »ausgerechnet Grace‹.« Er lachte wieder.
»Was meinst du mit »ausgerechnet?«, fragte sie irritiert.
»Was?«
»Es klingt ein bisschen abwertend.«
»Es war nicht abwertend gemeint.«
»Sondern?«
»Ich wollte damit lediglich ausdrücken, dass du zu nett bist, zu anständig - ach, du weißt schon. Dass du so was eben nie tun würdest.«
»Davon bist du überzeugt, ja?«
Wieder entstand eine kleine Pause, und dann lachte sie, und auch Ewan lachte. Herzlich, schallend rollte sein erleichtertes lachen in großen Wellen über den Atlantik. »Wie ist das Wetter?«, fragte sie.
Das war eine ehefrauliche Frage, und sie untermauerte seine Erleichterung. »Phantastisch. Wir waren schon frühstücken. Es gab ein richtiges amerikanischen Frühstück mit Speck und allen Schikanen.«
Sie lächelte. »Hat es den Jungs geschmeckt?«
»Es ist kein Krümel auf ihren Tellern übrig geblieben. Sie genießen die Ferien in vollen Zügen - obwohl sie natürlich darunter leiden, dass du nicht hier bist«, setzte er hastig hinzu.
»Ich weiß.«
»Wir vermissen dich wirklich, Grace. Es macht nicht halb so viel Spaß ohne dich.«
War es nicht interessant, wie sich nur eine Spur von Unsicherheit auf Menschen auswirken konnte?, dachte Grace. Die kleinste Andeutung, dass nicht alles so war, wie er es zurückgelassen hatte?
»Ich vermisse euch auch«, antwortete Grace und fragte sich, ob sie das wirklich tat.
»Einen Moment, Grace - das Taxi ist da.« Er legte die Hand auf die Sprechmuschel, und Grace hörte ihn gedämpft Befehle geben. »Nein - schalt den Fernseher aus! Jamie? Komm endlich aus dem Bad! Was treibst du überhaupt so lange da drin?«
Sie hörte Geräusche, die auf das Verlassen des Zimmers und des Beginns eines neuen, abenteuerlichen Ferientages hindeuteten, und plötzlich erwachte der Wunsch in ihr, dieses alte, schmutzige Haus zu verlassen, in ein Flugzeug zu steigen, das sie ins blank geputzte Plastik-Paradies Florida bringen würde, und Speck zu essen. Sie gehörte hier nicht her. Es war nicht ihre Aufgabe, eine Pension zu führen und Wortgefechte mit einem selbstgefälligen, gerade mal dem Teenageralter entwachsenen Jungen zu führen.
»Ich muss auflegen«, sagte Ewan. Es war keine Zeit mehr für eine Unterhaltung mit den Jungen, nur noch für ein eiliges »Ich ruf später wieder an« von Ewan, und dann war die Leitung tot.
Ivy aus Cork weinte und erzählte wieder einmal von Leuten, die schon so lange tot waren, dass nur noch sie sich an sie erinnerte.
»Der arme Ronald!«
»Welcher Ronald, Mammy?«, wollte ihre Tochter wissen. Man merkte ihr deutlich an, wie nervös sie war. Sie hatte zwei Kinder mitgebracht, die am Fußende des Bettes herumturnten, und wahrscheinlich tauten in ihrem Kofferraum Tiefkühllebensmittel vor sich hin.
»Ronald Wainwright«, schluchzte Ivy.
»Aus Clonmel? Amy, geh da runter!«
»Aus Waterford. Der mit dem Gestüt.«
»O ja - der Springreiter.«
»Nein, nein! Er war kein Springreiter. Er hat nie im Leben auf einem Pferd gesessen!« Ivy war aufgebracht. Ihre weißen Spinnenfinger zerfetzten ein Papiertaschentuch, während die Kinder auf ihren knochigen Beinen auf und ab hüpften und die Tochter sich verwirrt fragte, wer die Fremde da im Bett wohl war.
Julia versuchte, nicht hinzuhören. Bis vor zwei Tagen hatte sie sich niemals alt gefühlt. Nicht einmal ältlich. Ihrem Empfinden nach hatte sie so um die fünfundsechzig aufgehört, älter zu werden. Das war so ein angenehmes, reifes Alter, jenseits der schwierigen Vierziger, und man hatte vor nichts und niemandem mehr Angst. Doch hier im Krankenhaus fühlte sie sich alt. Das kam von der Luft, die zu warm war und nach alten Menschen roch. Sie konnte nicht dagegen an: Es stieß sie ab, die Gebisse in den Wassergläsern auf den Nachttischen zu sehen und die rosa Beinprothese da drüben auf dem Stuhl, all die Kleinigkeiten, die erst wieder eingesetzt oder angebracht werden mussten, bevor einer dieser Patienten so einfache Dinge tun konnte wie essen oder laufen.
Neuer Besuch traf ein. Diesmal war Elizabeth gegenüber das Opfer.
»Was gab‘s zum Tee, Granny?«
»Schäferpastete.«
»Wie schön. Hattest du Joghurt oder Eis zum Nachtisch?«
»Eis.«
»Ahhh, herrlich! Ich liebe Eis! Was für welches?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»War es Vanille? Oder vielleicht Erdbeer?«
»Ich weiß es nicht. Es ist doch ganz egal. Warum zum Teufel interessiert dich das?«
»Schon gut, Granny, beruhige dich.« Sie wandte sich ihrem Mann zu: »Ich hab dir doch gesagt, dass ihr Gedächtnis nachlässt.«
Zum ersten Mal war Julia froh, dass JJ so schnell gestorben war. Seinerzeit hatte es sie tief bekümmert, denn es bot sich ihr keine Gelegenheit, von ihm Abschied zu nehmen, überhaupt noch etwas zu ihm zu sagen. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, was sie zuletzt zu ihm gesagt hatte, aber es musste etwas Triviales gewesen sein, denn sie waren gerade von einem Spaziergang im Regen zurückgekommen und nach oben gegangen, um sich umzuziehen. Als er nicht herunterkam, war sie nachsehen gegangen und hatte ihn auf dem Schlafzimmerfußboden vorgefunden. Auf dem Weg ins Krankenhaus war er in der Ambulanz zu Bewusstsein gekommen und hatte mit den Ärzten gesprochen. Sie war nicht mitgefahren, weil sie ein Köfferchen für ihn packen wollte und den Ernst der Lage nicht erkannt hatte, und Frank fuhr sie eine Stunde später in die Klinik. Inzwischen hatte JJ noch einen Schlaganfall bekommen und war gestorben.
Was wirklich ein Segen war, wenn man bedachte, wie er hätte enden können: ans Bett gefesselt und der Familie ausgeliefert.
Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, dear Mammy, happy birthday to you!
Da brachen sie über sie herein, Michael, der einen Kuchen in den ausgestreckten Händen hielt, und dichtauf Gillian und Susan. Natürlich wandten sich alle im Zimmer den Neuankömmlingen zu und schnalzten ob des Spektakels wohlwollend mit der Zunge. Einige der Schwestern applaudierten. Julia hätte sich am liebsten die Decke über den Kopf gezogen. Stattdessen überwand sie sich zur Bekundung erfreuter Überraschung.
»Das hättet ihr nicht tun sollen«, sagte sie - und sie meinte es auch so.
»Eine Rede! Eine Rede!«, rief Michael aufgeregt wie ein Junge.
»Ich bin keine Rednerin«, wehrte sie mit einer Handbewegung ab.
»Dann wünsch dir was«, sagte Susan.
Julia lächelte ihr einziges Enkelkind voller Zuneigung an.
»Und was soll ich mir wünschen?«
»Einen batteriebetriebenen Roller, den alle anderen in meiner Klasse schon haben«, antwortete Susan und bedachte ihren Vater mit einem missgünstigen Blick.
»Ich hab‘s dir doch erklärt: Die sind zu teuer«, sagte er.
»Das ist doch blödes Gerede«, gab sie genervt zurück. »Du verdienst hunderttausend im Jahr.«
»Susan!«, zischte Gillian.
»Wie auch immer«, sagte Julia mit ihrer fröhlichsten Stimme. »Es geht los!« Sie beugte sich vor, um die Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen auszublasen (sieben rosafarbene für die Jahrzehnte und drei blaue für die Jahre). Nicht, dass sie gebrannt hätten - das wäre gegen die feuerpolizeilichen Vorschriften des Krankenhauses gewesen, erklärte Michael -, aber sie sahen sehr hübsch aus auf dem Kunstwerk mit dem weißen Zuckerguss und der rosa Schärpe. Gillian war gerade lange genug gesund geblieben, um ihn zu backen. Jetzt setzte sie sich auf das Fußende des Bettes, elegant in pfirsichfarbener Seide, und betupfte sich hin und wieder mit einem Sagrotantüchlein. »Herzlichen Glückwunsch, Julia.«
»Ich danke dir, Gillian«, erwiderte Julia ebenso förmlich. »Und euch auch, Michael und Susan. Ihr habt mir eine große Freude gemacht.«
»Du hast deine Geschenke doch noch gar nicht bekommen.« Michael ging vor die Tür und kam mit einem Arm voll Päckchen zurück. Julia schnalzte erfreut mit der Zunge, während sie Parfüm auspackte, ein Seidentuch, eine Schachtel mit sündteuren Pralinen, einen silbernen Rahmen, eine Gesichtscreme, für die eines dieser Supermodels Reklame machte, und eine wirklich schöne Goldkette.
»Das ist viel zu viel...«
Aber Michael strahlte sie nur glücklich an. »Unsinn! Du hast Geburtstag.«
Susan war immer wütender geworden. Jetzt platzte sie heraus: »Wieso kriegt sie lauter Zeug, und mir kaufst du den Roller nicht?«
Michael schaute sie verlegen an. »Es ist nicht dein Geburtstag, Susan.«
»Ich habe nicht halb so viel zu meinem Geburtstag bekommen, stimmt‘s, Mum?«
»Um Himmels willen!«, explodierte er. »Heute ist der Ehrentag deiner Großmutter! Kannst du nicht mal für fünf Minuten aufhören, nur an dich zu denken?«
Susans Unterlippe begann zu zittern. Sie sah Michael tief gekränkt an. »Ich sag ja nur, dass es nicht fair ist.«
»Das reicht jetzt«, murmelte Gillian - doch auch sie sah ihren Mann mit einem gekränkten Ausdruck an.
Julia, der Anlass für diesen Familienzwist, setzte ihr liebevollstes Granny-Lächeln auf und sagte: »Wisst ihr, ich trage kaum jemals Schmuck. Was hältst du davon, wenn ich dir die Kette leihe, Susan, für unbestimmte Zeit? Nimm dir auch die Pralinen, ich bekomme ohnehin Verstopfung davon. Wann probieren wir endlich Gillians köstlich aussehenden Kuchen?«
Susan war ein wenig besänftigt. Gillian schluckte die indirekte Maßregelung zur Feier des Tages tatsächlich wortlos. Michael, dem die Feinheiten dieses diplomatischen Verhaltens entgingen, teilte fröhlich Winnie-Pooh-Pappteller aus es waren die einzigen, die es im Supermarkt gegeben hatte, erklärte er - und Barbie-Plastikbecher, und dann servierte er Kuchen und schenkte Susan Coke und den Erwachsenen, ebenfalls den Krankenhausregeln entsprechend, alkoholfreien Wein ein.
»Auf Mammy!«, sagte er, und alle erhoben ihre Barbie-Becher, und Julia lächelte unter Gillians wachsamem Blick und dachte, dass sie JJ nie so vermisst hatte wie in diesem Augenblick. Aber das durfte sie nicht aussprechen, denn Michael, Gillian und Susan wollten es nicht hören. Nicht jetzt, nicht nach zwei Jahren, nach denen die anderen den Verlust nun wirklich verschmerzt hatten und sie ihre Umwelt nicht mehr mit ihrem Gram langweilen sollte. Also blinzelte sie ihre Tränen zurück, schob einen Bissen von Gillians trockenem, fettfreiem, zuckerarm glasiertem Kuchen in den Mund und lobte: »Er schmeckt absolut wundervoll, Gillian.«
Taktlos wie immer versäumte Michael es, in dieses Lob einzustimmen, und sagte stattdessen: »Wir haben noch ein letztes Geschenk für dich, Mammy.«
Das Ausmaß seiner Großzügigkeit war ihr peinlich. Er hatte sich doch noch nie in solche Unkosten gestürzt. Oder hatte sie es nur nie bemerkt? »Ich habe doch schon so viel bekommen.«
»Das waren nur Kleinigkeiten.« Er schaute seine Frau an, und sie bekundete mit einem verkniffenen Lächeln ihre Zustimmung, worauf er eine kleine, hübsch verpackte Schachtel aus der Tasche zog und sie mit einem drängenden: »Los, Mammy! Mach sie auf!« überreichte. Julia wurde plötzlich bewusst, dass Spannung in der Luft lag. Drei Augenpaare verfolgten jede ihrer Bewegungen: Michaels voller Vorfreude, Susans ohne Begeisterung und Gillians ...? Sie lächelte zwar immer noch, aber da war auch etwas anderes. Ein Anflug von Märtyrertum, dachte Julia.
Sie öffnete die Schachtel. »Ein Schlüssel«, stellte sie überrascht fest.
»Ja.« Michael war inzwischen kurz vor dem Platzen. »Du hast mir doch keinen ... Wagen gekauft, oder?«, fragte Julia entsetzt. Guter Gott - sie wollten sie hoffentlich in ihrem Alter nicht etwa zwingen, Auto zu fahren!? Michael lachte. »Nein, Mammy. Das ist kein Schlüssel für ein Auto.«
Julia drehte ihn hin und her. Es war ein ganz einfacher Schlüssel aus rostfreiem Stahl.
»Schau nicht so besorgt, Julia«, sagte Gilian mit einem schrillen, kleinen Lachen. »Er ist nicht für die Eingangstür einer Irrenanstalt.«
Ohhh. Sie hatte die Samthandschuhe ausgezogen. »Dann hat Dr. Bradley mich also für gesund erklärt?«, folgerte Julia. Sie hatte gestern einen Termin bei ihm gehabt. Er war ein sehr netter Mann, ein Bridgefan, wie sie erfuhr. Er hatte einen Hund namens Mopp und vier Enkel, und er war letztes Jahr im Urlaub auf Kreta gewesen. Julia hatte in zehn Minuten viel mehr über ihn erfahren, als er ihr im Lauf von zwei Stunden entlocken konnte.
»Er hat kein Wort über dich gesagt. Ärztliche Schweigepflicht«, versicherte Michael ihr. »Aber wenigstens bleibt dir eine Anzeige erspart.« Julia schnaubte verächtlich.
»Willst du nicht wissen, wofür dieser Schlüssel ist?«, fragte er.
Um die Wahrheit zu sagen - das Ganze hatte seinen Reiz verloren. Eigentlich wollte sie nur noch ihr Nachmittagsschläfchen machen. »Nun sag‘s mir schon.«
»Es ist der Schlüssel zu einer Haustür«, sagte Michael, offenbar entschlossen, es immer noch spannend zu machen.
»Zu wessen Haustür?«
»Deiner. Nun ja - zu deinem neuen Heim.«
Ihr Geduldsfaden riss, und sie fuhr ihren Sohn an: »Wovon redest du, um Himmels willen, Michael?«
Michael schaute Gillian an, die Susan anschaute, und dann schauten sie alle drei sie an.
»Wir bauen die Garage zu einer Granny-Wohnung um, Mammy!«, ließ Michael die Bombe platzen. »Wir möchten, dass du bei uns wohnst!«
»Ich rufe an, um mich nach Mrs Carr zu erkundigen.«
»Sind Sie eine Angehörige?«, kam die Standardfrage.
»Nein - und ich weiß, dass Sie nur Angehörigen Informationen geben dürfen. Ich möchte lediglich wissen, ob sie am Freitag entlassen wird.«
»Tut mir Leid - wird dürfen nur Angehörigen Informationen geben.«
»Ja, das weiß ich wie gesagt ... Hören Sie, kann ich vielleicht mit ihr sprechen - am Telefon, meine ich?«
»Ihr Sohn ist im Moment bei ihr. Möchten Sie mit ihm sprechen?«
»Ah... nein, danke.«
Frustriert legte Grace auf und kehrte zu ihren Essensvorbereitungen zurück, obwohl sie gar nicht wusste, ob Adam überhaupt auftauchen würde. Er war schon den ganzen Nachmittag verschwunden. Nicht, dass sie das interessierte. Doch, das tat es. Sie hatte bereits in seinem Zimmer nachgesehen, ob seine Sachen noch da waren. Sie waren es, und das erfüllte sie aus mehreren Gründen mit Erleichterung.
Um acht stand sie im Speisezimmer und ließ den Blick über den Tisch wandern. Es war ihr als ein wenig zu familiär erschienen, ihn in der Küche zu bewirten, und so hatte sie den großen Esstisch abgestaubt, ein weißes Baumwolltischtuch aufgelegt und auf zwei gegenüberliegenden Plätzen mit Mrs Carrs Familiensilber gedeckt. Schließlich würde sie nicht wie ein Dienstbote erst hinterher essen. Um das Bild zu vervollständigen, erschien es ihr angebracht, eine Kerze hinzustellen und eine Vase mit frischen Blumen aus dem Garten.
Plötzlich kam ihr die Kerze übertrieben vor. Zu intim. Der Tisch sah aus wie für ein Date dekoriert. Also entfernte sie den Leuchter. Jetzt kamen ihr auch Bedenken wegen des Risottos mit Wildpilzen und Spargel, der auf dem Herd warm gehalten wurde. Galt Spargel nicht als ein Verführungsgemüse? Und wie würde Adam die Meringuen mit ihren steifen, weißen Spitzen und den saftigen, roten Erdbeeren zum Dessert interpretieren? Oh, Himmel! Sie hätte Spagetti bolognese machen sollen. Auf jeden Fall würden sie in der Küche essen.
Zu spät. Sie hörte, wie die Haustür geöffnet und geschlossen wurde und dann das dumpfe Geräusch von Stiefeln auf den Fliesen in der Diele. Gleich darauf erschien er in der Tür. »Hi«, begrüßte sie ihn lässig, womit sie ihm zu vermitteln hoffte, dass sie an jedem Tag der Woche mit so viel Aufwand zu speisen pflegte und er einen Mangel an Klasse verriete, wenn er eine Bemerkung dazu machte. »Warum essen wir hier?«, fragte er. »Mrs Carr hat die Anweisung hinterlassen, die Abendmahlzeiten in formellem Rahmen zu servieren. Sie ist da altmodisch«, log Grace und hoffte, ihre Zunge würde nicht schwarz werden und sich zusammenrollen, wie sie es den Jungs oft androhte.
»Ist mir Recht.« Er war irgendwie verändert. Aufgekratzt. Erregt. Sie fragte sich, ob seine Nachmittagsgestaltung wohl eine Begegnung mit »Babe« beinhaltet hatte. Eine Vision von weißen, schlanken Schenkeln, die sich wie zwei glatte, kühle Boas um seinen Körper wickelten, zuckte durch ihren Kopf.
Sie schüttelte ihn unwillig und schaltete auf Mütterlichkeit um. »Ich hoffe, Sie haben Appetit mitgebracht«, zwitscherte sie und floh in die Küche, um nicht noch seine Wange zu tätscheln oder so was.
Sie würde ihm heute Abend sagen, dass er morgen früh gehen müsse, weil Mrs Carr nach Hause käme. Sie würde ihm nichts berechnen, denn es erschiene ihr irgendwie unrecht, ihm Geld für etwas abzuknöpfen, was für sie wie ein kleiner Urlaub gewesen war. Sie würde morgen mit dem Duft frisch gemähten Grases in den Kleidern und Mehl unter den Fingernägeln nach Dublin zurückkehren.
»Kann ich was helfen?«
»Oh!«
Sie hatte nicht bemerkt, dass er in die Küche gekommen war. Er stand dicht hinter ihr - aber wohl nur, um sich über ihre Schulter hinweg die französische Zwiebelsuppe anzuschauen. (In französische Zwiebelsuppe ließ sich kein sexueller Hintergedanke hineindeuten, oder? Vielleicht in Frankreich. Vielleicht wurde sie dort als unverblümte Aufforderung zum Vorspiel betrachtet. Heilige Muttergottes!)
»Nein, danke«, antwortete sie munter. »Ich habe alles unter Kontrolle.«
Abgesehen von ihren Händen, die plötzlich extrem unbeholfen waren. Sie häufte viel zu viel Käse auf die Toastscheiben, die die Suppe bekrönten, beschloss jedoch, dieses eine Mal auf die Kalorien zu pfeifen. Sie war am Verhungern. Auf dem Land schmeckte alles besser. Es war, als seien ihre Geschmacksknospen hier aus einem Dornröschenschlaf erwacht.
»Eine gute Köchin sind Sie also auch«, sagte Adam.
»Wieso auch?«, fragte sie. Flirtete er mit ihr? Es war lange her, dass jemand das getan hatte, und so fiel es ihr schwer, es zu beurteilen.
Er zuckte unschuldig mit den Schultern. »Ist nur so eine Redensart.«
Im Speisezimmer aßen sie ihre Zwiebelsuppe und betrachteten einander über den Tisch hinweg. Ob Adam wohl bemerkte, dass sie heute Sommersprossen bekommen hatte? Sie waren ihr bei einem Blick in den Badezimmerspiegel aufgefallen, und sie wusste nicht genau, ob sie sie sexy oder unschön finden sollte. Unter dem Strich gefielen sie ihr. »Sensationell«, sagte er andächtig.
»Danke.« (Wann hatte sie sich das letzte Mal so mädchenhaft gefühlt?) »Die Suppe auch.«
Oh! Sie spürte Wärme in ihr Gesicht steigen, kam dann jedoch zu dem Schluss, dass sie ihn missinterpretiert hatte. »War Ihr Nachmittag schön?«, fragte sie äußerlich gelassen.
»Ja, danke.« Er war offenbar nicht gewillt, ihr zu verraten, ob er ihn damit zugebracht hatte, »Babe« durchzubumsen. Stattdessen legte er mit einem Seufzer der Zufriedenheit den Löffel hin, stand auf und verließ den Raum. Einfach so! Dachte er, das sei alles, was sie an Kochkünsten zu bieten habe? Wie konnte er sie als »sensationell« loben und dann einfach sitzen lassen? Was für ein launenhafter Mensch!
Sie überlegte gerade, was sie jetzt tun sollte, als er mit einer Flasche Wein zurückkam. »Für Sie.«
»Für mich?«
»Na ja - für uns.«
Sie sah zu, wie er die Flasche öffnete und ihr einschenkte, bevor er sich wieder hinsetzte.
»Lassen Sie uns anstoßen«, sagte er, nachdem er auch sich eingeschenkt hatte.
»Worauf?«
»Vielleicht auf Mrs Carr? Weil sie nicht hier sein kann?«, schlug er vor.
»Eine gute Idee«, sagte Grace schuldbewusst und hob ihr Glas, um auf die Frau zu trinken, die sie angeschossen hatte und in deren Haus sie es sich jetzt so gut gehen ließ. Aber morgen würden sie und Adam fort sein. Wenn Mrs Carr am Freitag zurückkäme, würde sie nichts merken. Es war noch immer die Regelung wegen ihrer Genesung zu besprechen, doch das müsste warten, bis die Frau wieder zu Hause wäre.
»Und auf Sie«, ergänzte Adam.
»Auf mich?« Sie versuchte sich in einem erotischen, kleinen Lachen. Was dabei herauskam, klang eher nach einem bösen Raucherhusten.
»Als Dank für ein wunderbares Essen«, erklärte er.
»Nicht so voreilig, vielleicht ist der Hauptgang ja ungenießbar.«
»Machen Sie sich nicht so runter. Warum tun Sie das?«
Sie hatte nur gealbert - aber er nahm alles so ernst! Wenn er sich mit Freunden unterhielt, war das wahrscheinlich immer eine todernste Angelegenheit, und niemand durfte sich einen Scherz erlauben.
»Es ist ziemlich dämmrig«, meinte er.
»Ich werde Licht machen ...«
»Warum zünden wir nicht einfach die Kerze an, die da drüben auf dem Kaminsims steht?«
»Das wäre auch eine Möglichkeit«, antwortete sie gedehnt und bemühte sich verzweifelt, die Situation unter Kontrolle zu behalten. Er machte sie tatsächlich an - und das nach seinem Babe-Geflöte am Telefon! Sie sollte aufstehen und den Risotto holen gehen. Doch sie tat es nicht. Sie blieb sitzen. Aus reiner Neugier, redete sie sich ein. Es interessierte sie. wie weit er gehen würde. Wie weit würde sie ihn gehen lassen? Nicht sehr weit, natürlich. Schließlich war sie eine verheiratete Frau.
Aber es fiel ihr schwer, das nicht zu vergessen, als er sie im romantischen Schein der Kerze ansah und sagte: »Ich habe mir vorhin überlegt, dass ich überhaupt nichts über Sie weiß.«
»Was wollen Sie denn wissen?«
»Irgendwas. Alles.«
Er flirtete mit ihr. Definitiv. Sie war zwar schon lange aus dem Flirtgeschäft raus, doch das erkannte sie trotzdem. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen soll«, erwiderte sie kokett. Sie flirtete ebenfalls! Es mochte ihr an Finesse mangeln, aber sie flirtete! Daran war nichts Verwerfliches. Oder?
»Was geht in Ihrem Kopf vor, Grace?«
»Wie bitte?«
»Wenn Sie allein sind. Wenn Sie in Ihrem Wagen sitzen und sich unbeobachtet fühlen.«
Oh! Er hatte sie gesehen! Aber heute früh war sie nur in den Wagen gestiegen, um nachzuschauen, ob die Männer von der Werkstatt Schmutz auf den Sitzen hinterlassen hatten. (Hier auf dem Land verspürte sie nicht das dringende Bedürfnis, sich im Auto einzuschließen, wie sie es zu Hause tat, was genau betrachtet ein schreckliches Licht auf Ewan und die Jungen warf. Sie liebte sie. Wirklich. Sie hingen ihr nur zum Hals raus.)
»Das ist eine interessante Frage«, sagte sie. Vor allem von jemandem, der ihr eigentlich nur das Höschen ausziehen wollte.
»Ich kam darauf, weil Sie wie eine Träumerin wirken.«
»Ich denke viel«, erwiderte sie cool. Und das stimmte. Meistens phantasierte sie sich Kriminalstorys zusammen, in denen sie eine Polizeibeamtin nach dem Vorbild der Ciarice Starling im Schweigen der Lämmer darstellte - eine ernsthafte Heldin mit gesundem Selbstvertrauen, eine Alleingängerin, die nie lächelte und ihre Fälle mit Bravour löste. (Grace war sehr eigen, was ihre Vorbilder anging. Zum Beispiel wären ihre Heldinnen niemals mit den Adjektiven »quirlig« oder »sexy« zu beschreiben.) Natürlich erzählte sie niemandem von diesen Tagträumen, denn sie wollte nicht das Befremden in den Augen eines Gegenübers lesen, wenn sie zugab, dass sie in ihrem Alter Teenagerträume hegte.
Aber warum musste das alles enden, wenn man erwachsen wurde? Es war, als müsse man dann sein Leben so akzeptieren, wie es nun einmal war, und dürfe sich nie wieder ausmalen, in der Frühstücksflockenabteilung des Supermarkts von der CIA rekrutiert und auf eine geheime Mission geschickt zu werden. Immerhin fand sie, dass ihre Phantasien im Lauf der Jahre reifer geworden waren. Zumindest lag ihr Schwerpunkt jetzt auf dem Gebiet Action und Abenteuer und nicht mehr darauf, einen umwerfend attraktiven, reichen Mann kennen zu lernen, der sie heiraten und Kinder mit ihr haben wollte. Wenn sie überhaupt noch romantische Tagträume hatte, dann drifteten sie sehr schnell in Richtung Pornografie ab.
Manchmal träumte sie auch gar nichts, wenn sie in ihrem Auto saß, sondern dachte an die letzte Kreditkartenabrechnung oder überlegte, wo sie die nächsten Sommerferien verbringen sollten. Dann allerdings war es an der Zeit, auszusteigen und Tee zu machen.
»Aber das ist persönlich«, erklärte sie Adam nachdrücklich, damit er nicht glaubte, er könne sie mit seinen gespielt naiven Schuljungen-Fragen übertölpeln und aus der Reserve locken. »Entschuldigen Sie mich.« Sie stand auf und ging in die Küche. Der Risotto war genau richtig. Sie bekrönte ihn mit einem Berg gehobelten Parmesan und atmete ein paarmal tief durch. Nicht, dass sie dem Burschen da drinnen nicht gewachsen wäre - sie fühlte sich durchaus als Herrin der Lage. Was sie zutiefst beunruhigte, war die Tatsache, dass sie die Situation genoss.
Trotzdem betastete sie prüfend ihre Frisur und betrat das Esszimmer mit der Schüssel in den Händen wie eine Bühne. Zweiter Akt!
Adam war nicht zu sehen. Verdammt! Grace wollte sich gerade auf die Suche nach ihm machen, als sie ihn in einer Ecke kauern und an einem alten Plattenspieler herumfummeln sah. Sie hatte den Apparat bisher nicht bemerkt, und auch den staubigen Stapel Platten daneben nicht. »Das Essen wartet!«, sagte sie.
Doch er war wie verzaubert. »Sehen Sie sich das an alte Fünfundvierziger!« Er hielt eine Single hoch. »›Bye Bye Love‹ von den Everley Brothers! Das ist ein Klassesong!«
Er kannte sich offenbar aus in der Musik der Fünfziger.
Grace nicht. Sie wollte die Stimmung von vorhin wiederhaben, und so lockte sie mit schmelzender Stimme: »Risotto!«
»Und ›Peggy Sue‹ von Buddy Holly«, schwärmte Adam. Er würdigte sie keines Blickes.
»Mit Wildpilzen!« Sie ließ die Schüssel in der Luft kreisen und hoffte, dass das Aroma bis zu ihm wehen würde. Immerhin führte der Weg zum Herzen eines Mannes doch angeblich durch den Magen.
»Legen wir die mal auf?«, fragte er und hielt die Platte hoch.
»Lieber nicht.«
»Warum?«
»Sie gehört Mrs Carr, und es wäre ihr sicher nicht recht, dass wir in ihren Sachen herumstöbern.«
»Wir stöbern nicht herum - wir spielen nur Musik. Ich wüsste nicht, was sie dagegen haben könnte.«
»Vielleicht nach dem Essen.«
Er legte die Platte trotzdem auf. »Kommen Sie, Grace. Werden Sie nicht wieder so abweisend. Sie waren doch auf einem so guten Weg.«
»Wie bitte?«
»Haben Sie in ihrem vornehmen Dubliner Viertel keine Apparate, mit denen man Musik machen kann?«
»Ich wohne in keinem vornehmen Dubliner Viertel«, schwindelte sie. Woher wusste er überhaupt, dass sie in Dublin wohnte? Wahrscheinlich von dem Nummernschild des Wagens.
»Peggy Sue« platzte mit blechernem Klang in die Diskussion. Grace gab auf, setzte sich und begann im Takt zu nicken, doch nach dem dritten Mal kam sie sich alt und albern vor und hörte auf. Außerdem wollte sie endlich essen.
»Kommen Sie tanzen«, sagte er.
»Was?« Sie schaute verständnislos zu ihm auf.
»Tanzen. Das bedeutet, sich zur Musik bewegen.«
»Ich weiß, was Tanzen ist - aber ich ... ich tanze nicht, okay?«
»Wieso? Ist was mit Ihren Beinen?«
Plötzlich konnte sie ihn nicht mehr ausstehen. »Nein ...«
»Sie sehen ganz in Ordnung aus. Und schön.«
Mit einem verführerischen Blick ergriff er ihre Hand und zog sie von ihrem gemütlichen, sicheren Stuhl hoch.
»Bitte lassen Sie mich los, Adam.«
»Das ist das erste Mal, dass Sie mich mit meinem Vornamen angesprochen haben. Und er hat noch nie besser geklungen.«
Sie bekam keine Gelegenheit zu einer Erwiderung, denn er schwenkte sie herum, verdrehte ihr den Arm und wirbelte sie wie einen Kreisel durchs Zimmer. Sie hatte nicht einmal Zeit, sich lächerlich vorzukommen, denn eine Sekunde der Unaufmerksamkeit könnte eine lebenslange Behinderung zur Folge haben.
»Ich verstehe nicht, dass Sie sich dieses Zeug anhören«, sagte sie, als »Peggy Sue« in die zweite, schmalzige Runde ging. »Ihre Generation hat doch einen ganz anderen Geschmack.«
Es war ihr wichtig, zu reden und sich lustig über ihn zu machen.
Er zog sie zu sich heran. »Ich habe einen ganz speziellen Geschmack«, antwortete er, den Blick auf ihre Lippen gerichtet. Sie spürte ihr Gesicht heiß werden, als sei sie wieder siebzehn und tanze in der Schuldisko mit dem Klassenbeau.
»Können wir aufhören, bitte?«, fragte sie.
»Macht Ihre Arthritis Ihnen zu schaffen?«, erkundigte er sich und wirbelte sie von sich weg, ehe sie etwas erwidern konnte. Jetzt hasste sie ihn regelrecht. Sie ergriff die Initiative und wirbelte mit so viel Schwung zu ihm zurück, dass sie gegen seine Brust prallte und ihm die Luft aus den Lungen presste.
»Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich unaufrichtig. »Können wir uns jetzt setzen?«
Adam ließ sie augenblicklich los. »Selbstverständlich. Es macht Ihnen offensichtlich keinen Spaß.«
Er hatte aufgegeben. Sie hatte das Rührmichnichtan zu überzeugend gespielt. Aber genau das hatte sie doch erreichen wollen, oder? Natürlich!
Sie aßen den Risotto und redeten über Reisen und Bücher, beim Dessert lehnte er einen Nachschlag ihrer brustförmigen Meringuen ab, und als sie die Kerze ausblasen ging, hielt er sie nicht zurück, und sie fühlte sich plötzlich, als hätte jemand die Luft aus ihr herausgelassen. Was absolut lächerlich war! Sie hatte ihren Spaß gehabt und er seinen, und es war das Beste, es dabei zu belassen (wann war ihr der Gedanke gekommen, dass vielleicht mehr daraus werden könnte?).
Er bot ihr an, beim Abwaschen zu helfen, doch sie lehnte dankend ab, sagte ihm, dass zahlende Gäste (sie hatte sich inzwischen überlegt, ihm doch Geld abzuverlangen) nicht ihr Geschirr spülten. Er bot an, Kaffee zu machen, aber sie ließ auch das nicht zu. Schließlich gab er sich geschlagen und ging mit seinem Weinglas in den Garten hinaus. Grace lief nach oben und rief von Mrs Carrs schnurlosem Telefon aus in Florida an, wobei sie sich im Geist einen Knoten ins Taschentuch machte, um nicht zu vergessen, Geld für das Gespräch auf dem Tischchen in der Diele zurückzulassen.
»Grace? Ist etwas mit dir?« Ewan klang ein wenig gereizt und sehr weit weg.
»Nein, nein. Ist etwas mit dir?«
»Nein.«
»Ich meine ja nur - weil du sagtest, du würdest wieder anrufen, und es nie getan hast.«
»Wir sind in diesem Moment im Park angekommen.«
»Im Park? Du meinst Disneyworld?«
»Ja. Es ist unglaublich. Wir habe gerade einen riesigen ...« Seine restlichen Worte gingen in einem ohrenbetäubenden Dröhnen unter. Wahrscheinlich kam eine riesige, grinsende, elektronische Mickey Mouse vorbei oder so was. »Geht es den Jungs gut?«, fragte sie, als der Krach verebbt war.
»Die sind ganz in ihrem Element. Willst du mit ihnen sprechen? Neil - komm mal her! Neil! Mum ist am Telefon! Sie will mit dir reden. Neil!«
»Ich sag dir was, Ewan«, überspielte sie ihre Enttäuschung darüber, dass ihr Sohn offenbar kein Interesse daran hatte, mit ihr zu telefonieren, »ich rufe an, wenn bei euch Abend ist. Dann können wir uns ausführlich unterhalten.«
»In Ordnung«, stimmte er zu und fügte in vertraulichem Ton an: »Der gute Neil ist manchmal ein bisschen schwierig, weißt du. Ich denke, wir sollten ein Auge darauf haben.«
»Ja«, pflichtete Grace ihm bei. Sie hatte bereits seit Jahren ein Auge darauf.
»Und - wie geht‘s Mrs Carr? Gibt es was Neues?«
»Sie ist noch im Krankenhaus«, antwortete Grace, die keine Lust hatte, ihre fruchtlosen Anrufe in der Klinik zu schildern, lapidar.
»Aber was ist mit Michael? Du hast inzwischen doch bestimmt mit ihm gesprochen.«
»Äh ... wir sind dabei, etwas auszutüfteln«, wich sie aus.
»Na, großartig. Neil! Was glaubst du - wann kannst du herkommen? Ich frage bloß«, setzte er, offensichtlich nicht an einer Wiederholung ihrer letzten telefonischen Diskussion interessiert, hastig hinzu. »Ich will dich auf keinen Fall unter Druck setzen ... Neil! Entschuldige mich einen Moment, Grace.« Er hielt die Sprechmuschel zu. Grace hörte einen schnellen Wortwechsel in gedämpftem Ton, und dann war Ewan wieder da. »Jedenfalls hoffe ich, dass du bald kommst.« Jetzt klang er leicht gestresst. »Schließlich versäumst du deinen Urlaub.«
»Ja. Hier ist es nicht so aufregend wie bei euch. Ich werde mich jetzt mit einem Buch ins Bett verziehen.« Sie wusste nicht, warum sie ihre Situation als derart öde hinstellte. Sie hatte doch nichts zu verbergen.
»Dann wünsche ich dir eine gute Nacht«, sagte Ewan. »Und mach dir trotz allem eine schöne Zeit. Entspann dich mal so richtig. Ich komme mit den Jungs auch allein klar.«
»Freut mich zu hören.« Er konnte sich diesen Märtyrerton sparen - sie musste das ganze Jahr mit ihnen klarkommen.
»Das ist mein Ernst«, bekräftigte er seine Aussage. »Ich möchte nicht, dass du denkst, dass sie Trübsal blasen, weil du nicht hier bist.« Und dann krönte er diese Beleidigung noch mit einer Kränkung: »Wahrscheinlich tut es euch allen gut, mal Ruhe voreinander zu haben.«
»Was soll das heißen?«
»Dass es für dich bestimmt erholsam ist, sie mal nicht um dich zu haben.«
»Das ist nicht das, was du gesagt hast.«
»Grace ...«
»Willst du andeuten, dass ich sie zu sehr bemuttere?«
»Du drehst mir die Worte im Mund um!« Schon wieder dieser Märtyrerton!
»Ach, geh zu deiner Mickey Mouse zurück, Ewan.«
Es folgte ein kurzes Schweigen und dann sagte er: »Warum streiten wir uns, Grace? Das tun wir doch sonst nie.«
»Vielleicht sollten wir das aber!«, gab sie laut zurück. »Vielleicht wäre es gesund, sich hin und wieder richtig zu streiten! Unsere Ehe ein bisschen aufzuschütteln, bevor wir beide an Langeweile eingehen!« Das war leicht überzogen, aber sie hatte das Gefühl, dass es Not tat.
Nach einer neuerlichen kleinen Pause bat er: »Können wir später darüber reden? Ich versuche hier, die Jungen zu bändigen.«
Typisch Mann, dachte sie giftig. Kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun, wogegen Frauen routinemäßig fünfzehn Dinge gleichzeitig taten, und das auch noch mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
»Okay«, stimmte sie zu.
»Wann? Morgen?« Er klang ungeduldig.
»Bald«, antwortete sie vage.
Wenn er es nicht für nötig hielt, wie versprochen anzurufen, dann sah sie nicht ein, warum sie ihm einen festen Termin zusagen sollte. Vielleicht würde sie ihn sogar zwei Tage schmoren lassen! Mehr allerdings nicht, denn länger würde sie es nicht aushalten, ohne von den Jungs zu hören. Adam saß auf einem kleinen, alten Teppich auf dem Rasen, als sie in den Garten kam, um ihm gute Nacht zu sagen. Sie hätte gar nicht hinausgehen sollen. Es war eine blöde Idee in ihrer momentanen Verfassung, und sie würde später ausführlich über diese Torheit nachdenken. Als sie zu ihm trat, schaute er auf. »Alles okay?«
»Bestens. Warum auch nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wollen Sie sich setzen?« Er rutschte ein Stück zur Seite, um Platz für sie zu machen. »Ich wollte eigentlich ins Bett...«
Er versuchte nicht, sie zum Bleiben zu überreden. Sie setzte sich trotzdem. Ihre Schulter streifte seine, und sie rückte hastig von ihm ab.
Er rauchte etwas Selbstgedrehtes, das einen beißenden Geruch verströmte.
»Es stört Sie doch nicht, oder?«, fragte er, als er ihren Blick bemerkte.
»Absolut nicht!«, erklärte sie, wie sie hoffte, herablassend und welterfahren. Sie hatte seit ihrem Studium kein Gras mehr geraucht. Es war das Rebellischste und Verderbteste, was sie je getan hatte, und die Erinnerung daran und die zwei Gläser Wein, die sie zum Essen getrunken hatte, machten sie wagemutig. »Darf ich mal ziehen?«
Er schaute sie überrascht an. »Ich wusste nicht, dass Sie rauchen.«
»Wie Sie vorhin sagten: Sie wissen nichts über mich«, erwiderte sie großspurig.
»Ich kann Ihnen auch eine drehen«, bot er an.
»Nein, nein ... ich will nur ein paar Züge.«
Er reichte ihr den Joint herüber, und sie hielt ihn mit gelangweilter Miene lässig zwischen den Fingern. Als Adams Blick abwanderte, führte sie das Ding zum Mund. Es war feucht von seinem Speichel, und das dünne Papier klebte an ihren Lippen, doch sie schaffte es zu inhalieren, einen Hustenanfall zu unterdrücken und es wieder von ihren Lippen zu lösen. So weit, so gut.
Adam schaute nachdenklich zum Himmel hinauf. »Wenn man das da oben so sieht, kommt man sich sehr klein und unwichtig vor, stimmt‘s? Wir sind nur Staubkörnchen im Universum, ohne jede Bedeutung für den großen Plan.«
»Hmmm«, machte Grace mit rauchvollen Wangen. Ihre Kehle brannte. Wahrscheinlich war das die Wirkung der Droge.
»Wir wieseln hier unten auf der Erde herum, sind ständig unheimlich beschäftigt«, fuhr er gedankenvoll fort, »aber was hat das für einen Sinn? Was wollen wir alle?« Der Joint hatte ihn offenbar bereits im Griff. Grace hingegen war trotz zwei weiterer, tiefer Züge noch nicht annähernd in dem Zustand, der eine Hinterfragung des Lebenszwecks bedingte.
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Glücklich sein, vielleicht?«
»Glücklich sein?« Seine Verachtung schallte über den Rasen. »Was spricht dagegen?«
»So wie ich die Sache sehe, hat man nur ein Leben, und wenn man es in dieser Zeit nicht schafft, eine Veränderung auf der Erde zu bewirken, hat man es vergeudet.«
»Eine ziemlich radikale Ansicht«, fand Grace. »Natürlich ist es sehr viel einfacher, sich einen angenehmen Job zu suchen und einen netten Mann zu heiraten und mit den Kinderchen in einem hübschen Haus zu wohnen und sich einen Dreck um die hungernden Menschen zu scheren.« Grace spürte seinen durchdringenden Blick wie einen Stich. Den Blick weiter zum Himmel gerichtet, nahm sie noch einen Zug und gab den Joint dann zurück. »Dieses Zeug ist wirkungslos«, sagte sie von oben herab.
»Was?«
»Es schmeckt nur nach Tabak.«
»Es ist Tabak.«
»Was immer Sie damit gemischt haben, taugt nichts. Sie sollten vielleicht den Dealer wechseln. Ich bin ja schon von einer stinknormalen Zigarette higher geworden.« Sie erwog, ihm, um ihre Erfahrenheit zu dokumentieren, die Nummer ihres eigenen Dealers zu geben, aber dann dachte sie, das wäre wohl doch etwas übertrieben. (Außerdem würde Nick aus allen Wolken fallen, wenn ihn jemand um Drogen anhaute.)
»Das ist eine Zigarette.« Adam lächelte. »Was dachten Sie denn? Cannabis?«
»Cannabis? Seien Sie nicht albern!«, gab sie schrill auflachend zurück. O Gott!
Er legte den Arm um sie und drückte sie freundschaftlich an sich, was beinahe noch beleidigender war. »Arme Grace. Sie geben sich solche Mühe.«
»Was?«
»Die Regeln zu brechen. Hin bisschen verrückt zu sein. Und ich helfe Ihnen überhaupt nicht.«
»Überschätzen Sie sich nicht.« Wütend schüttelte sie seinen Arm ab. War sie wirklich so leicht zu durchschauen? Sie kam sich kindisch vor, wie ein junges Mädchen, das beschlossen hatte, seine Coolness zu beweisen, indem es einen Joint rauchte. »Ich gehe ins Bett«, verkündete sie.
»Bitte nicht. Sonst fühle ich mich einsam und verlassen.« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Adam sich jemals einsam und verlassen fühlte. Er war viel zu selbstgenügsam, seines Lebenssinnes zu sicher. Sie hingegen schien den größten Teil ihres bisherigen Erwachsenendaseins damit verbracht zu haben, in einem Meer aus Erwartungen anderer Leute zu dümpeln.
»Ich bin sicher, Sie sind an interessantere Gesellschaft gewöhnt«, sagte sie.
»Sie sind interessant! Ich kenne niemanden, der so ist wie Sie«, erwiderte er. »Nein, nein, plustern Sie sich nicht auf, bitte! Das war als Kompliment gedacht.«
»Was?« Das Wort war Grace nicht sonderlich vertraut.
»Die Mädchen in meinem Alter sind zynisch und taff, haben nichts im Kopf als Fitness und die neueste Gucci-Tasche«, fuhr er verächtlich fort. »Aber Sie - Sie sind so ... Sie sind so ...«
Sie starrte ihn kriegerisch an. Jetzt fiel ihm kein Kompliment mehr ein!
»Liebenswürdig«, sagte er schließlich. »Fürsorglich. Lustig. Schön.«
»Schön.« Grace lachte auf. Sie könnte sich in ihn verlieben, dachte sie - ein kleines bisschen.
»Ja.« Er nickte. »Sie sind erstaunlich.« Dieses ungewöhnliche Wort hätte aus einem anderen Mund belustigend gewirkt, aber aus seinem klang es völlig natürlich. Überzeugend. Unbestreitbar, sogar. Sie war erstaunlich.
Ihr Mund war plötzlich wie ausgedörrt. Adam legte die Hand auf ihren Nacken.«Sie sind ja völlig verkrampft«, murmelte er.
»Tut mir Leid«, sagte sie. »Sie müssen sich doch nicht entschuldigen.« Die Welt schien Kopf zu stehen. Jetzt war Adam der welterfahrene Reife, der ihr am Ende einer Verabredung zum Abendessen Komplimente machte und sie beruhigte, und sie hockte auf dem Teppich wie eine nervöse Jungfrau, überwältigt von seinen Aufmerksamkeiten und ahnungslos, was sie als Nächstes erwartete.
Diese Frage wurde ihr sehr bald beantwortet, als er sich herüberbeugte und sie auf die Haare küsste. Zugegeben, es waren nicht ihre Lippen, doch der Schock war trotzdem groß genug, um sie zurückscheuen zu lassen. »Was ist los, Grace?«
»Ich bin verheiratet«, sagte sie, doch es lag keine wirkliche Überzeugungskraft in ihrer Stimme.
»Ja«, bestätigte er leichthin. Er nahm ihre Ehe offenbar nicht sonderlich ernst, und das ärgerte sie. Ihre Beziehung zu Ewan mochte nicht perfekt sein, doch sie hatte immerhin elf Jahre ihres Lebens hineingesteckt, und es war die einzige, die sie hatte.
»Und Sie haben eine Freundin«, hielt sie ihm vor Augen.
»Ja.« Er schien auch das nicht sonderlich ernst zu nehmen.
»Es würde sie nicht stören, wenn Sie mit einer anderen Frau knutschen?«
Er dachte einen Moment darüber nach und antwortete dann ziemlich ruppig, wie sie fand: »Meine Freundin ist nicht das Thema.«
Damit blieb nur ihr Mann. Ihre Ehemann. Ewan, um Himmels willen - der Vater ihrer beiden Söhne! Wahrscheinlich fuhr er in diesem Moment mit ihnen in einem Kanu einen Bach in Critter Country hinunter, unbeschwert und ohne den Schimmer einer Ahnung, dass ein tasmanischer Teufel seine Frau auf die Haare küsste.
»Das ist die reale Welt«, erläuterte Adam ihr seinen Standpunkt. »Sie sind nicht hier. Nur wir sind hier, Grace - Sie und ich.«
»Und damit ist es zu rechtfertigen?«
Er zuckte mit den Schultern und sah sie mit einem Blick an, der besagte, dass sie Probleme mache, wo keine seien. »Wird uns die Realität morgen nicht wiederhaben?«, sagte er.
Das leuchtete ihr ein. Und so ließ sie die Realität außen vor. Es gab nur noch Mrs Carrs Garten und den frisch gemähten Rasen und den Tabakgeruch von Adams Atem, als er sie küsste. Es war ein seltsam zurückhaltender Kuss, fast schüchtern, und er erinnerte sie an die Zeit, als sie mit siebzehn anfing auszugehen und der Abschiedskuss vor der Haustür der Höhepunkt des Abends war. Damals widmeten die Mädchenzeitschriften diesem Kuss ganze Seiten - ob es ein Zungenkuss sein sollte oder nicht, ob man davon schwanger werden konnte, wie man den Jungen auf nette Art bremste, wenn der Gutenachtkuss ihn dazu verleitete, »weitergehen« zu wollen.
Adam wollte das ganz eindeutig. Er versuchte, sie nach hinten zu drücken. Die Horizontale war gefährlich - das wusste sie sowohl aus Erfahrung als auch aus Zeitschriften. Also musste sie beizeiten auf die berühmte Bremse treten. »Adam«, murmelte sie. »Entschuldige. Willst du nicht...«
»Nein! Ich meine ja! Ich bin sicher, es wäre sehr...«, sie war froh, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte. In ihrem Kopf lief in Technicolor ein Film mit ihm in der Hauptrolle, der ihre sämtlichen jemals durchgespielten, pornografischen Phantasien enthielt, »... schön«, beendete sie den Satz mit züchtig niedergeschlagenen Augen.
»Aber wir kennen uns doch kaum.«
»Ich kenne dich gut genug«, widersprach er.
Plötzlich empfand sie die Generationskluft sehr deutlich. Nicht, dass sie in seinem Alter übertrieben prüde gewesen wäre - aber heute wurde Sex wesentlich lockerer gehandhabt. Und sie war schließlich verheiratet. »Vielleicht lerne ich dich ja morgen besser kennen«, sagte sie. Es schadete doch niemandem, sich ein Hintertürchen offen zu lassen, oder? Immerhin würden sie sich nach dem morgigen Tag nie wieder sehen ...
»Dann bis morgen«, sagte er. Es klang wie ein Versprechen.
»Ja.« Sie fragte sich, ob er vorhatte, bei Tagesanbruch in ihr Zimmer einzudringen. Es gab keinen Schlüssel für die Tür. Natürlich könnte sie einen Stuhl unter die Klinke klemmen. Aber sie wusste, dass sie es nicht tun würde.
Sie blieb noch lange auf dem Rasen sitzen, nachdem er gegangen war, schaute, die Arme um die Knie geschlungen, zum Sternenhimmel hinauf und dachte, dass Adam sich irrte, was die überwältigende Größe des Universums anging, denn heute fühlte sie sich ganz und gar nicht unbedeutend.